Vom Absacker bis zur Überdosis. Rausch-Praxis, ihre Akteure und Räume

Vom Absacker bis zur Überdosis. Rausch-Praxis, ihre Akteure und Räume

Organisatoren
Magnus Altschäfl/ Anna Lehner, Promotionsprogramm Promohist, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Margit Szöllösi-Janze, Lehrstuhl für Neueste und Zeitgeschichte, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Graduate Center LMU
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.08.2019 - 17.08.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Hannah Heipeck, München

Zum Thema des Rausches veranstaltete das Promotionsprogramm Promohist der Ludwig-Maximilians-Universität München einen zweitägigen Workshop mit dem Titel "Vom Absacker bis zur Überdosis. Rausch-Praxis, ihre Akteure und Räume." Die knapp 20 Teilnehmer/innen aus vier Ländern hatten hierbei die Gelegenheit, in interdisziplinärem und internationalem Rahmen über physische und soziale Räume des substanzinduzierten Rausches sowie dessen Inszenierung und Praxis zu diskutieren. Denn "jeder konsumiert – oder eben dezidiert nicht" wie MAGNUS ALTSCHÄFL (München) und EMANUEL STEINBACHER (München) in ihren einführenden Worten die Aktualität des Themas beschrieben.

Im ersten Panel "Arenen des Rausches" wurden intendierte Auswirkungen von Rauschzuständen in der Politik diskutiert. Schon in der Antike spielten spezifische Regelungen und das soziale Umfeld, in dem sich die römische Oberschicht berauschte, eine maßgebliche Rolle, wie CHRISTOPHER DEGELMANN (Berlin/Edinburgh) erläuterte. Denn beim Gastmahl und anschließendem Trinkgelage, lat. convivium und comissatio, entstanden wichtige Bündnisse. Dabei mussten an Stand und Geschlecht gebundene, feste Regeln beachtet werden, um sich die Anerkennung der Oberschicht und auch der Öffentlichkeit zu sichern. Ein komplexes Zusammenspiel aus Raum, Akteuren und Zeitpunkt des Weinkonsums diente einer elitären Gruppe der Gesellschaft des antiken Roms zum Ausbau von Machtstrukturen.

Eine Zusammenkunft von Eliten des nationalsozialistischen Regimes behandelte THOMAS CLAUSEN (Cambridge). In seinem Vortrag über die Bierabende des Volksgerichtshofs legte er dar, wie die Veranstalter versuchten, durch den Konsum von Alkohol ein Gefühl der Verbundenheit unter den Anwesenden zu erzeugen. Denn dort trafen in informellem Rahmen Mitglieder der Wehrmacht, der SS, des Volksgerichtshofs sowie des Kriegsgerichts und Justizbeamte aufeinander. Zusätzlich sollten die gehaltenen Reden für einen ideologischen Rahmen sorgen und das Ziel der Zusammenkunft untermauern: Eine Tätergemeinschaft zu schaffen, in der – vor allem auch ehrenamtliche – Richter mit einbezogen wurden. Zentral war hier die enthemmende Wirkung von Alkohol, die durch die Veranstalter der Bierabende bewusst zur Schaffung und Radikalisierung sozialer Netzwerke zwischen Angehörigen des Justizsystems und nationalsozialistischer Eliten eingesetzt wurde.

Das zweite Panel "Alkohol als Problem" thematisierte Problemdiskurse, Konsumverhalten und behördliche Regulierungen im 20. und 21. Jahrhundert. MAREEN HEYING (Düsseldorf) nahm die Kneipe als zentralen Ort des Arbeiterviertels zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Blick, wo politisches und gesellschaftliches Leben der Arbeiterschicht stattfand und eine eigene Trinkkultur entstand. Verbunden mit dem Akt des Trinkens waren Sozialdisziplinierungen durch die Behörden, wobei den Wirtinnen und Wirten eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser Maßnahmen zukam. Rund um die Problematisierung des "Trunkenboldes" ließ sich ein komplexes System aus versuchten behördlichen Sanktionen sowie sich bildenden Strukturen der Unterwanderung nachzeichnen, welches einen interessanten und differenzierten Einblick in die Lebenswelt der Arbeiterschicht ermöglichte.

CHARLOTTE GROSSMANN (Freiburg) analysierte die Entwicklung der Trinkkultur der letzten 70 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Sie konstatierte einen Wandel des Konsumverhaltens: Der Genuss von Alkohol wurde alltäglicher und verlagerte sich dabei gleichzeitig vom öffentlichen Raum der Kneipe ins Private. Demgegenüber stellte sie für den Untersuchungszeitraum ein zunehmendes öffentliches Bewusstsein für die schädlichen Auswirkungen von Substanzen auf den menschlichen Organismus fest. Allerdings wurde Alkohol im Gegensatz zu etwa Tabak oder Medikamenten weniger problematisiert.

Das dritte Panel "Rausch in Bewegung(en)" widmete sich dem Trinken auf hoher See und einem durch Drogen verursachten Ortswechsel in der linksradikalen Szene Berlins. Die Auswirkungen von Alkoholkonsum auf das Sozialgefüge auf Auswandererschiffen im 19. Jahrhundert thematisierte DANIELA EGGER (München). Sie führte vor, dass neben trennenden Aspekten (der Crew war das Trinken im Gegensatz zu den Passagieren untersagt) auch neue Verbindungen über den Alkohol entstanden, so etwa der Handel zwischen Passagieren und Seeleuten oder auch Abstinenzgruppen, die sich an Bord zusammenfanden. Alkohol an Bord brachte stets Aushandlungsprozesse mit sich, die die Beziehungen der Akteure untereinander beeinflussten und oft zu einem Ringen über Zuständigkeitsbereiche und Befehlsgewalt führten. Eben diese Prozesse bieten einen ausgezeichneten Ansatzpunkt, um die Agenda einzelner Passagiere, aber auch das soziale Gefüge an Bord gewinnbringend zu untersuchen, so die Referentin.

In seinem Vortrag über die Verbindung von Drogenkonsum und der Subkultur der linksradikalen Szene in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre erläuterte MAX GEDIG (München) die zentrale Rolle, die der gemeinsame Konsum von Drogen im Selbstverständnis, im Habitus und zur Konstitution der Gemeinschaft in der Szene erfüllte. Am Beispiel der Gruppierung der Tupamaros zeigte er, wie die Polizei durch den Drogenkonsum auf Anschlagspläne in Berlin aufmerksam wurde. Daraufhin wechselte die Gruppierung von Westberlin nach München, wo sie einige Rohrbombenanschläge und Banküberfälle verübte. Der Konsum von Drogen führte jedoch nicht nur zu einem erzwungenen Ortswechsel, er schränkte auch komplexe Handlungen wie Bombenbau und Anschlagsplanung ein, sodass die sich abspaltende RAF den Drogenkonsum zugunsten ihrer Agenda einschränkte.

In der Keynote sprach DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) über das Spannungsverhältnis von Rausch und Rationalität in der Gegenkultur um das Jahr 1968. Indem er verschiedene Orte und Kontexte des Drogenkonsums darstellte, zeigte er, wie durch die Einnahme rauschinduzierender Substanzen in Kombination mit akustischen und visuellen Reizen eine Entgrenzung und Befreiung des Individuums erreicht werden sollte. Die maximale Einwirkung auf alle Sinne sollte eine bessere Realität und in ihr die Utopie einer besseren Gesellschaft erfahrbar machen. Durch den Aufstieg zu einer Massenbewegung, deren Erkennungsmerkmale eine zunehmende Kommerzialisierung erfuhren, kam es innerhalb der Szene zu Diskussionen über den ideellen und politischen Anspruch der eigenen Nonkonformität. Der Rauschzustand als Element des freien und entgrenzten Bewusstseins stand in der Gegenkultur für eine alternative Vorstellung von Modernität und Utopie, die nicht im Widerspruch zur Rationalität stand, sondern als Rationalität mit Ekstase verstanden werden konnte.

Im vierten Panel "Askese und Exzess" standen die literarische Umsetzung von Rauschzuständen sowie die strikte Abstinenz der Straight Edge Bewegung im Mittelpunkt. Anhand von Passagen aus Werken Jörg Fausers und Rainald Goetz‘ konnte JONAS SOWA (Kassel) nachweisen, wie in der sogenannten Drogenliteratur die Darstellung von Rauschzuständen als Raum für Sprachexperimente diente. Gleichzeitig ließen die beschriebenen Erfahrungen und die Auswirkungen des Drogenkonsums der Protagonisten auf deren Beziehungen und Lebensalltag die literarischen Figuren plausibler erscheinen. Der zunehmende Abbau der Sprache mit fortschreitendem Rauschzustand im Fall von Goetz' Text warf die Frage nach der Fassbarkeit und den Möglichkeiten der sprachlichen Darstellung von Rausch auf, bei dem es sich stets um eine individuelle Erfahrung handle.

Im letzten Vortrag legte ROBERT WINKLER (Gießen) dar, wie sich die Straight Edge Bewegung in den USA als Gegenbewegung zur Rauschökonomie in der Musikszene der 1970er-Jahre mit zunächst nationaler und schließlich globaler Anhängerschaft entwickelte. Im Zentrum stand die Idee der Rationalität und der Kontrolle. Drogen, Alkohol und in unterschiedlich starkem Maß auch Sexualität lehnten sie folglich ab. In der Musikszene war die Bewegung vor allem im neu entstehenden Hardcore Punk vertreten. In ihrer weiteren Entwicklung kristallisierten sich verschiedene Strömungen heraus, die neues Gedankengut wie die Idee des Vegetarismus, aber auch Militanz und Homophobie aufnahmen. Winkler zeigte, wie sich im historischen Rahmen der Gesundheits- und Sozialpolitik der Reagan-Ära verbunden mit einem Generationenwechsel innerhalb der Bewegung deren Gedankengut bis zu Beginn der 1990er-Jahre zunehmend radikalisierte.

Der Abschlusskommentar von ANNA LEHNER (München) rundete den informativen und gelungenen Workshop ab, ordnete Anregungen und fasste Linien zusammen. In der anschließenden Diskussion stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer heraus, dass die Untersuchung des Rausches eine hervorragende Möglichkeit darstellt, um gesellschaftliche Differenzierungen zu erforschen. Der Konsum berauschender Substanzen diente nicht nur Subkulturen als Distinktionsmerkmal, er rief auch im Rest der Gesellschaft Reaktionen hervor, die bis hin zur rauschhaften Askese in einer Gegenbewegung reichen konnten. Dabei besitzt die Erforschung von Rauschzuständen epochen- und disziplinübergreifend an Aktualität, wie das Spektrum der Vorträge eindrucksvoll belegte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung & Einführung
Magnus Altschäfl / Emanuel Steinbacher (München)

Panel I: Arenen des Rausches
Moderation: Sebastian Peters (München)

Christopher Degelmann (Berlin): „Von Wein, Schlaf und Unzucht betäubt“. Der Vorwurf der ebriositas im politischen Diskurs der späten römischen Republik

Thomas Clausen (Cambridge/Frankfurt): „und man trägt leichter, wenn man weiß, daß der Kamerad auch schwer daran trägt“: der Bierabend des Volksgerichtshofs im Kontext nationalsozialistischer Verfolgungspraktiken

Panel II: Alkohol als Problem
Moderation: Britta von Voithenberg (München)

Mareen Heying (Düsseldorf): In der Kneipe und davor. Alkohol und Arbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Charlotte Großmann (Freiburg): Alkoholkonsum und gesellschaftliche Problemwahrnehmung im 20. Jahrhundert: Von der „sozialen Frage“, individuellen Gesundheitsproblemen und dem Flaschenbier

Panel III: Rausch in Bewegung(en)
Moderation: Aglaja Weindl (München)

Daniela Egger (München): What shall we do with the drunken sailor? Alcohol on board Australian emigrant ships in the 19th century

Max Gedig (München): Wie das Heroin die Rohrbombe nach München brachte

Keynote
Moderation: Max Gedig (München)

Detlef Siegfried (Kopenhagen): Rausch und Rationalität. Räume, Praktiken und Ästhetiken der Gegenkultur um 1968

Panel IV: Askese und Exzess
Moderation: Karl Siebengartner (München)

Jonas Sowa (Kassel): „Brotrinde zelebrieren“ – Funktion und Realisierung von Rauschzuständen in literarischen Texten

Robert Winkler (Gießen): Don’t Smoke, Don’t Drink, Don’t Fuck: Die abstinenzpropagierende Straight Edge Bewegung im konservativen Zeitgeist der 1980er und 1990er Jahre

Abschlusskommentar
Moderation: Anna Lehner (München)